Schmerzanamnese

In die aktuelle Schmerzdiagnostik sollten möglichst alle bedeutsamen vorangegangenen Befunde (auch bildgebende Diagnostika, wie Röntgenbilder, Doppler-, MRT-, Kernspin-, CT- oder szintigraphische Untersuchungen) ebenso wie Befundberichte der Vorbehandlungen einbezogen werden. Sie liefern den Therapeuten erste Hinweise auf die der Schmerzsymptomatik möglicherweise zugrunde liegenden Auslöse- und Aufrechterhaltungsfaktoren – z.B. Funktionsstörungen des muskulo-skelettalen Systems (Muskeln, Bänder, Sehnen und Gelenke) oder krankhafte Veränderungen des Nervensystems (z.B. Polyneuropathie oder neurologische Veränderungen nach Hirninfarkt) oder auch  Stoffwechselstörungen (z.B. rheumatoide Prozesse, Zuckerkrankheit). Ebenso ist es hilfreich und notwendig, einen vorab von Ihrem Arzt ausgehändigten Deutschen Schmerzfragebogen vor der ersten Untersuchung ausgefüllt einzureichen, in den auch ergänzend persönliche Fragen zu Ihrer Person, zu Stimmung und Befindlichkeit integriert sind.
 

Die Anamnese-Erhebung bietet Ihnen in Ihrer Schmerztherapie die vielleicht einzigartige Möglichkeit, dass Ihre Schmerzsymptomatik umfassend hinsichtlich aller relevanten medizinisch-körperlichen, psychischen und sozialen Aspekte analysiert werden kann. In der Schmerztherapie erfordert dies in der Regel eine mind. zweistündige Befragung und Untersuchung durch die Sie hier unterstützenden Ärzte und Psychotherapeuten. Bewusst wird hierbei in der Schmerztherapie hinreichend viel Zeit eingeräumt, die Sie sich auch selbst reservieren sollten.

Patienten mit chronischen Schmerzen bringen häufig eine lange „Leidensgeschichte“ mit, wenn sie eine Schmerztherapie aufsuchen – geprägt von der Entwicklung des Schmerzproblems über einen Zeitraum von Wochen, Monaten oder Jahren und den ganz unterschiedlichen Erfahrungen mit Anwendungen oder Medikamenten, die mehr oder weniger gut geholfen haben. Diese „Schmerzgeschichte“ sollte der Therapeut möglichst gut kennen, um bestmöglich helfen zu können. Dazu befragt er den Patienten nach der Entwicklung und Art der Schmerzen (Anamnese). Er erfasst im Gespräch wesentliche Aspekte, die bei der Suche nach den Schmerzursachen und deren Behandlung entscheidend sind.

Zur Erstaufnahme darf Sie selbstverständlich eine Begleitperson Ihres Vertrauens (Ehepartner, Kinder, Eltern, eine Vertrauensperson oder Betreuer) begleiten und kann auf Ihren Wunsch in die Befragung einbezogen. Natürlich können Sie die Untersuchung auch allein aufsuchen, um Ihre Problematik persönlich darzustellen, hinsichtlich Aspekten, die ausschließlich Sie selbst dem Behandler unter dem Vertrauensschutz der Schweigepflicht mitteilen möchten.
 

Im Rahmen der Schmerzanamnese geht es dann um die folgenden Fragen:

  • Wo, d.h., an welchen Körperstellen, treten die Schmerzen auf? Wo sind die am stärksten belastenden Schmerzregionen? Oft lässt hier eine sog. Schmerzzeichnung durch Markierung der betroffenen Schmerzgebiete wichtige Merkmale der Schmerzen erkennen.
  • Wie häufig treten Schmerzen auf – andauernd, mehrfach täglich oder mehrfach pro Woche, andauernd mit zusätzlichen Anfällen, am Tag und/oder in der Nacht?
  • Wie stark sind die Schmerzen? Hilfreich können hier sogenannte Schmerzskalen sein.
  • Welcher Art sind die Schmerzen – eher brennend, stechend, ziehend, bohrend oder reißend? Oder sind die Schmerzen treffender als quälend, elend oder furchtbar zu beschreiben?
  • Wann haben die Schmerzen begonnen – gab es konkrete Auslöser, wie eine Verletzung, einen Gips oder einen Unfall? Gab es andere persönliche Ereignisse und Bedingungen, die mit dem Schmerzbeginn in Zusammenhang stehen, wie beispielsweise Kränkungen und Enttäuschungen, Erschöpfung und Burnout, eine Trennung, Scheidung, Todesfälle oder aber Überforderungen, Mobbing am Arbeitsplatz, Kündigung und Arbeitslosigkeit?
  • Wie stark behindern die Schmerzen bestimmte Tätigkeiten und Aktivitäten in Alltag und Beruf? Unter welchen Bedingungen treten die Schmerzen verstärkt auf?
  • Welche Folgen haben die Schmerzen auf Stimmung, Lebensqualität und Erleben im Krankheitsverlauf und auch aktuell?
  • Wie haben sich die Schmerzen im Verlauf der Erkrankung verändert?
  • Was kann die Schmerzen vermindern? Welche Behandlungen – beispielsweise welche Medikamente, Operationen, ambulante oder auch stationäre Therapien, physikalische oder andere Anwendungen – wurden durchgeführt und mit welchem Erfolg?
  • Welche eigenen Maßnahmen der Schmerzlinderung kennen Sie und wie und mit welchem Effekt wenden Sie diese im Alltag an?

Da für die Entstehung und Aufrechterhaltung chronischer Schmerzen vielfältige Faktoren bedeutsam sein können, sind die gesamten Lebensumstände im Zusammenhang mit der Vorgeschichte des Betroffenen für die Wahl der Schmerztherapie wichtig. Sowohl körperliche als auch seelische Verletzungen der jüngeren Zeit oder in der Vergangenheit (sogenannte Traumatisierungen,  Kränkungen oder Missachtung), Verlusterfahrungen (Trennung, Todesfall) oder besondere Belastungen (Überforderungen, Pflege eines Angehörigen, eigene Erkrankungen) können zum Schmerzgeschehen beitragen.

Die möglichst offene Beantwortung auch vielleicht persönlicher Fragen ist daher hilfreich. Im Einzelfall kann zur Einordnung der Beschwerden auch die Beantwortung spezieller Fragebögen sinnvoll sein, die helfen sollen, besondere Aspekte der Erkrankung zu verstehen. Dabei handelt es sich stets um Ihre individuellen Sichtweise.

Bitte seien Sie gewiss, dass Schmerztherapeuten Ihre Beschwerden immer unvoreingenommen ernst nehmen – auch wenn Sie vielleicht in der Vergangenheit schon einmal andere Erfahrungen gemacht haben sollten. Schildern Sie deshalb Ihre Belastungen ebenso unvoreingenommen, ohne diese besonders zu betonen oder gar beweisen zu müssen, oder auch einzelne Aspekte zurückzuhalten.
 

Sie selbst sind stets erster Experte für Ihre Schmerzen. Vielleicht können Sie mit Hilfe Ihrer Therapeuten auch zum Experten Ihrer eigenen Schmerzbewältigung werden!

Mit bestem Dank an den Autor Wolfgang Richter