Spiegeltherapie

Spiegeltherapie wurde erstmals 1996 von dem Inder Vilayanur S. Ramachandran bei Phantomschmerzen nach Amputation einer oberen Extremität eingesetzt. Das Spiegelbild der nicht betroffenen Hand gab den Teilnehmern die Illusion von zwei vorhandenen Extremitäten. Die Teilnehmer konnten sogar teilweise Sinneseindrücke, wie Berührungs- und Bewegungsempfinden in der amputierten Extremität wahrnehmen. Seit diesem Zeitpunkt wurde die Spiegeltherapie erfolgreich für mehrere Krankheitsbilder eingesetzt und konnte in vielen Fällen Schmerzen reduzieren und Bewegungseinschränkungen beseitigen.

Wirkungsweise einer Spiegeltherapie

Die Wirkweise liegt einerseits in der Lernfähigkeit und Formbarkeit (Plastizität) unseres Gehirns. Das Gehirn besteht aus Milliarden von Nervenzellen, die miteinander verbunden sind. In der Hirnregion, die für unsere Wahrnehmung von Berührung und Bewegung verantwortlich ist, befinden sich sogenannte „Repräsentationsareale“ verschiedener Körperregionen. Diese Anlage von Körperarealen im Gehirn ist vergleichbar mit einem Bauplan unseres Körpers und wird als Körperschema bezeichnet. Wir fühlen und unterscheiden also unsere verschiedenen Körperteile, weil die zugewiesenen Hirnregionen Signale aus dem Körper verarbeiten. Bei verschiedenen Erkrankungen, wie z.B. nach Amputationen, können diese Hirnareale schrumpfen und das Körperschema ist nachweislich verändert. Das bedeutet, die Wahrnehmung der Körperregion ist verringert oder durch Missempfindungen, wie Kribbeln, Taubheit oder Schmerzen verändert. Die Spiegeltherapie nutzt die Plastizität (Veränderbarkeit) des Gehirns und organisiert die betroffenen Areale neu. Durch den Lerneffekt soll ein natürliches Körperschema wiederhergestellt werden.

Eine weitere Wirkweise ist die Funktion der Spiegelneuronen. Diese Nervenzellen sind beim Erkennen und Nachahmen von Bewegungen, sowie am motorischen Lernen beteiligt. Sie können unsere Bewegungsmuster neu programmieren und somit helfen Schmerzerfahrungen zu vermindern. Die Gehirnaktivität ist während der Benutzung des Spiegels geringer, als die eigentliche Bewegung der betroffenen Seite wäre. Dadurch werden Schmerzreize weniger aktiviert.

Voraussetzungen und Einsatzmöglichkeiten für eine Spiegeltherapie

Können Sie sich Bewegungen der betroffenen Seite gut im Geiste vorstellen? Wenn ja, können Sie sich der Illusion eher hingeben und nehmen das Spiegelbild ihres Armes oder Beines leichter als Ihr eigenes an. Dadurch ist die Wirkweise der Spiegeltherapie umso stärker. Da Spiegeltherapie viel Aufmerksamkeit und Konzentrationsfähigkeit fordert, sollten die Einheiten nicht zu lange gewählt werden. Ein nachhaltiger Effekt tritt selten sofort ein. Daher gilt es geduldig mehrere Einheiten auszuprobieren.
 

Bei folgenden Krankheitsbildern wurde Spiegeltherapie bereits mit einem gutem Effekt eingesetzt:

  • CRPS (ehemals Morbus Sudeck)
  • Phantomschmerz
  • chronischen Schmerzen an Armen oder Beinen
  • Schlaganfall
  • Morbus Parkinson (neurologische Erkrankung)
  • Multiple Sklerose (neurologische Erkrankung)
  • Schädel-Hirn-Trauma oder Hirntumore
  • Nervenverletzungen
  • Fokale Handdystonie (Musikerkrampf)
  • Schmerzen oder Bewegungseinschränkungen nach Knochenbrüchen

Mögliche Nebenwirkungen

Es kann zu einer Symptomzunahme von Schmerzen, Taubheit, Kribbeln oder Zittern kommen, je nach Krankheitsbild. Diese Warnzeichen sollten sie berücksichtigen und eine Pause einlegen. Selten kommt es zu Schwindel oder Übelkeit während der Betrachtung des Spiegelbildes. Wenden Sie ihren Blick vom Spiegel ab und konzentrieren sich auf einen Punkt im Raum. Die Symptome verschwinden in der Regel nach kurzer Zeit.
Bei einigen Menschen kommt es zu emotionalen Reaktionen, wie z.B. Weinen oder das Gefühl von Unsicherheit. Auch diese Symptome verschwinden in der Regel mit dem Abwenden vom Spiegel.
 

Übungshäufigkeit

Grundsätzlich gilt, die Übungen lieber in kleinen Einheiten zu 5-10 Minuten und dafür öfters am Tag durchführen. Zu diesen Krankheitsbildern werden aus Studien folgende Empfehlungen gegeben: 

Bei CRPS wird eine Übungshäufigkeit von 4-6x täglich mit jeweils 5-10 Minuten empfohlen. Bei Phantomschmerz eine Übungshäufigkeit von mindestens 3x pro Woche, dabei 1-3x täglich mit jeweils 10-15 Minuten. Nach einem Schlaganfall beträgt die Empfehlung einmal täglich bis zu 30 Minuten. 

Wichtige Hinweise zur Durchführung

  • Den Einstieg in die Spiegeltherapie zeigen Ihnen Physio- oder Ergotherapeuten. Im Verlauf der Therapie sollte ein individuelles Hausaufgabenprogramm entstehen.
     
  • Die Spiegeltherapie sollte so früh wie möglich in der Behandlung eingesetzt werden.
     
  • Der Spiegel sollte sauber sein und ein realistisches Bild wiedergeben. Durch den Spiegel verzerrte Körperteile können Symptome verstärken.
     
  • Damit die Illusion gut wirken kann, sollte die Umgebung so „reizarm“ wie möglich sein. Es sollte ein ruhiger Raum sein. Tragen Sie keine Ringe oder anderer Schmuck während der Spiegeltherapie. Sichtbare Tattoos sollten abgeklebt werden. Das Spiegelbild sollte keine weiteren Gegenstände zeigen, die nicht auf beiden Seiten vorhanden sein können (z.B. Mobiltelefon, Geldbeutel, ...).
     
  • Die Dauer und Intensität richten sich nach der Konzentrationsfähigkeit und dem Auftreten von Nebenwirkungen. Sie sollten unterhalb ihrer Schmerztoleranzgrenze trainieren – während der Therapie und darüber hinaus sollte es zu keiner Schmerzverstärkung kommen.
     
  • Dokumentieren Sie Ihre Trainingseinheiten mit den jeweiligen Inhalten in einem Trainingsplan.

Beispiel für ein Übungsprogramm

Die Spiegeltherapie wird in 4 Stufen aufgebaut. Im Folgenden werden Möglichkeiten der Spiegeltherapie für Hände und Füße für die verschiedenen Stufen dargestellt:

1. Betrachten des Spiegelbildes

Startposition: Der Arm/Fuß liegt oder steht bequem auf dem Tisch/Boden und Sie betrachten konzentriert das Spiegelbild der gesunden Seite. Durch das „aktive Wahrnehmen“ wird das Spiegelbild als eigenes Körperteil angenommen. Die verdeckte Seite darf für Sie nicht sichtbar sein.

2. Aktives Bewegen des nicht-betroffenen Körperteils

Halten Sie eine einfache Position und beobachten Sie konzentriert die Hand/den Fuß. Danach bewegen sie aktiv die nicht betroffene Seite mit kleinen/einfachen Bewegungen (Bsp. Hand zur Faust ballen oder Fuß hochziehen). Als weitere Steigerung können größere/komplexere Bewegungen auf der nicht betroffenen Seite in unterschiedlichen Geschwindigkeiten ausgeführt werden. Langsamere Bewegungen können besser wahrgenommen werden und sollten am Anfang im Vordergrund stehen.

3. Leichte  beidseitige Bewegungen

Symmetrische, beidseitige Bewegungen analog zu den Punkten 1und 2 – von kleinen, einfachen und langsamen zu großen, komplexen und schnellen Bewegungen, mit und ohne Materialen.

4. Aktive Übung mit Therapiemitteln

Im weiteren Verlauf können unterschiedliche Materialen (Igelball, Handtuch, Pinsel, Linsenbad, ...) und vor allem Alltagsgegenstände (Stift, Besteck) eingesetzt werden. Dabei können Sie aktiv den Gegenstand benutzen oder der Therapeut berührt Sie damit, um ihre Wahrnehmung zu schulen.

Trainingsprinzipien

Die Stufen werden nach Trainingsprinzipien - vom leichten zum Schweren, vom Bekannten zum Unbekannten, von Langsamen zum Schnellen oder vom Einfachen zum Komplexen – individuell orientiert an den Defizite des Patienten aufgebaut. Dabei können Therapiemittel (Stufe 4), wie z.B. Igelbälle oder Handtücher auch schon in Stufe 2 genutzt werden.

Erweitertes Therapieprogramm

Graded Motor Imagery (GMI) ist ein Programm, das die Spiegeltherapie integriert. Es beinhaltet 3 Stufen des Lernens von schmerzreduzierten Bewegungen. Die erste Stufe ist die Bewegungsvorstellung, wobei Sie Bilder von Händen oder Füßen gezeigt bekommen und der linken oder rechten Körperseite zuordnen sollen (links-/rechts-Unterscheidung). In der zweiten Stufe sollen Sie anhand der zuvor benutzten Bilder sich die Bewegung an der betroffenen Seite nur vorstellen, ohne sie real auszuführen. Die dritte Stufe integriert die Spiegeltherapie. Jede Stufe sollte für zwei Wochen geübt werden und zu jeder vollen Stunde sollten Sie 10 Minuten üben. Treten vermehrt Nebenwirkungen auf, wird eine Stufe in der Therapie zurückgegangen. Viele Physio- und Ergotherapeuten nutzen heutzutage das GMI-Programm. Es bietet weitere Optionen zur Spiegeltherapie und kann ein wirksames Werkzeug in der Therapie sein.

Fazit
Spiegeltherapie kann ein effektives und nebenwirkungsarmes Training für Sie sein. Physio- und Ergotherapeuten setzen den Spiegel schmerzlindernd und bewegungsfördernd ein. Die Spiegeltherapie ist eine sehr aktive und intensive Therapie. Damit diese effektiv sein kann, werden Sie sowohl mental als auch zeitlich gefordert. Therapiefortschritte und Probleme sollten Sie regelmäßig mit einem Physio- oder Ergotherapeuten besprechen.
 

Mit bestem Dank an den Autor Stefan Lindner